Der amerikanische Dichter führte ein unstetes Leben. Die Verborgenheit der österreichischen Provinz bot ihm eine willkommene Zuflucht.
Tom Schulz
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Als W.H. Auden Mitte der 1960er Jahre in Ostberlin weilte, schlappte er in Pantoffeln aus dem Grand-Hotel auf die Strasse. Der Professor aus Oxford scherte sich auf diesem Terrain nicht um die Etikette. In New York soll er mit Hausschuhen in die Oper gegangen sein. Jahrelang als Nobelpreisträger gehandelt, bekam er den Preis am Ende nicht. Vielleicht, weil er offen homosexuell lebte? Wir wissen es nicht, doch die Zeit war wohl noch nicht reif für diesen Mut und die Akademie in Stockholm auch damals schon halb beschränkt.
Wer jemals sein Gedicht «If I Could Tell You» oder «In Memory of William Butler Yeats» gelesen hat, wird begreifen, dass hohe Dichtung nicht Teil der Long- oder Shortlist-Literatur ist, wie wir sie heutzutage erleben. Auden war einer der grössten anglo-amerikanischen Dichter seines Jahrhunderts, und sein Rang ist demjenigen T.S. Eliots und Ezra Pounds ebenbürtig. Er war very British, ein Feingeist, brillant in seiner Rede. Er liebte junge Männer, die Oper, sehr trockenen Martini und in seinen späten Jahren das Landleben in Niederösterreich.
Doch wie kam es dazu, dass es ihn ausgerechnet ins Mostviertel und an den Rand des Wienerwalds verschlug? Wie viele Intellektuelle teilte er das Schicksal des Getriebenseins und der Wirren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ortlosigkeit und Verlusterfahrung. Auden war der deutschen Sprache zugetan, aber er wollte aus verständlichen Gründen nicht in Deutschland leben, so kurz nach dem Holocaust und dem Faschismus.
Als Auden 1957 den italienischen Feltrinelli-Preis zugesprochen bekam, damals immerhin mit einem Preisgeld von 32000 Dollar verbunden, hatte er plötzlich genügend Geld, um mithilfe von österreichischen Freunden ein Haus zu erwerben, das wenig kostete und seine Zwecke erfüllte. Hinterholz 6 in Kirchstetten – so lautet die Adresse. Im Hinterholz, welch vortreffliche Metapher für einen Grossstädter. Hier verbrachte er mit Chester Kallman, seinem Sekretär, zwischen 1958 und 1973 die langen Sommermonate von Juni bis Oktober.
Es ist das letzte Haus vor dem Wald, und würde nicht der Verkehr über die nahe sechsspurige Autobahn rauschen, wäre die Stille vollkommen. Ein geräumiges Bauernhaus, zweistöckig, der Garten mit in die Höhe geschossenen Bäumen, wuchernden Sträuchern und Hortensien. Durchstreift man heute den Dorfkern, lassen sich einige Orte des Dichters wiederfinden, obschon sich vieles verändert hat. Die beiden Gasthäuser, in denen er am späten Vormittag nach der Schreibarbeit belegte Brote ass und dazu Bier trank, sind seit einer Dekade geschlossen.
Auf den Gasthausterrassen wachsen das Gras und die Distel. Den kleinen Einkaufsladen, zu dem er mit dem Auto fuhr, gibt es nicht mehr. Einzig Kirche und Friedhof, dicht beieinander, scheinen unbeeindruckt von jeglichem Zeitgeschehen. Nahe dem Eingang, linker Hand, direkt an eine Thujahecke grenzend, befindet sich das Grab. «W.H. AUDEN / 21.2.1907 – 28.9.1973 / POET AND MAN OF LETTERS», steht auf einer Bronzeplatte, die an einem schwarzen metallischen Kreuz befestigt ist.
Vernarrt in die Pünktlichkeit
Auden hatte einen klar strukturierten Tagesablauf, der durch nichts erschüttert werden konnte: Um 6 Uhr stand er auf, danach arbeitete er bis etwa 9 Uhr 30, eingeschlossen in sein Dachzimmer. Anschliessend Besorgungen, Wirtshausbesuch. Apéritif und Mittagessen. Nachmittags noch einmal drei Stunden Schreibarbeit und Korrespondenz. Kleiner Spaziergang oder Ausflug mit dem VW-Käfer. Danach Tea-Time und Kreuzworträtsel, ab 18 Uhr 30 Martini dry. Später das Abendessen mit Wein. Danach Konversation und Musik: Bellini, Donizetti oder Richard Strauss. Spätestens um 22 Uhr begab er sich auf sein Zimmer.
Manch einer hielt ihn für pedantisch, er war vernarrt in die absolute Pünktlichkeit. Im Hinterholz hatte er ein Refugium gefunden, fern der akademischen Welt und dem Rampenlicht. Hier konnte er im Bademantel unter Bäumen sitzen, in alten Schuhen, gekleidet fast schon wie ein Clochard durchs Dorf gehen. Mit Kallman, vierzehn Jahre jünger als er, in den er sich 1940 verliebt hatte, lebte er wie ein altes Ehepaar. Zusammen verfassten sie Libretti für Strawinsky und Hans Werner Henze.
Ein Teil des Hauses, der Dachboden mit Audens Arbeitszimmer und den Gängen, ist seit einem Jahrzehnt neu eingerichtet als Museum zu besichtigen. Eine schmale Holztreppe führt hinauf, man muss den Kopf einziehen. Zum Fenster hin steht ein einfacher Schreibtisch, die alte Schreibmaschine ist erhalten, ein Blatt eingespannt. Auf knapp fünfzig Quadratmetern Zeugnisse eines Lebens, der Kunst. Über Kopfhörer kann man seine Stimme hören, den sagenhaften Beginn des Gedichts über Yeats: «He disappeared in the dead of winter...» Dazu Fotografien, Erstausgaben, Audens private Bibliothek.
Im Zeitraffer noch einmal die Jahrzehnte seines Lebens: Kindheit in Birmingham, Internat, mit 14 schreibt er erste Gedichte, danach das Studium in Oxford. Freundschaft mit Stephen Spender. Die Jahre mit Christopher Isherwood im Berlin der 1920er Jahre, Bohème und schwules Leben in den Bars rund um den Nollendorfplatz. 1935 willigt er in die Scheinehe mit Erika Mann ein, damit diese die britische Staatsbürgerschaft erhält und emigrieren kann. 1937 geht er als Sanitäter in den Spanischen Bürgerkrieg. Mit Isherwood reist er nach China. Er schreibt Reisebücher und Theaterstücke, es folgen die literarischen Erfolge. «Collected Poetry» verkauft sich kurz nach 1945 über 50000 Mal. Von England zieht er in die USA. Doch die Sehnsucht treibt ihn nach dem Süden, wo er sommers auf Ischia lebt.
Wer sich vorher per Mail oder telefonisch anmeldet, kann das Museum besichtigen und in eine beinah private Sphäre eintauchen. Hauptsächlich Engländer und Amerikanerinnen kommen, auch Leute aus Wien. Manch einer von ihnen denkt bei Auden zuerst an den Film «Four Weddings and a Funeral» und das Gedicht «Funeral Blues».
Die untere Etage, bestehend aus fünf Zimmern, ist bewohnt. Zuerst lebte die zweite Haushälterin hier nach dem Tod des Dichters. Kallman verkaufte das Haus und folgte Auden, knapp ein Jahr später, nach in den Tod.
Der ungeliebte Nachbar
Ist es Zufall oder ein Paradox, dass nur wenige hundert Meter vom Sommerhaus im Hinterholz das prächtige Anwesen des österreichischen Nationaldichters Josef Weinheber steht? Ein grosser Garten mit reichlich Schatten, geschlossenen Hecken und monströsen Eichen. Auf der Rückseite das Grab hinter einem Zaun mit Maschendraht, die eiserne Tür verschlossen. Was gibt es zu verbergen?
Die Marktgemeinde Kirchstetten ehrt den Heimatdichter mit einem Gedenkstein «als unseren grössten Lyriker». Doch daran lässt sich zweifeln. Auf der Infotafel nahe dem Friedhof fehlt jedes Wort über die Nazizeit. Kein Wort davon, dass der Kindergarten nach ihm benannt ist. Weinheber ein Vorbild? In dem Gedicht «Josef Weinheber» schrieb Auden: «Abgestempelte Feinde / Vor zwanzig Jahren, / Jetzt, Nachbarn Tür an Tür, wären / Wir vielleicht Freunde geworden.» Das «vielleicht» schneidet messerscharf ein. Dass Auden auch freundlich und kollegial über seinen «Nachbarn» schrieb, ehrt ihn und ist einer gewissen Altersmilde zuzurechnen.
An anderer Stelle heisst es im Gedicht: «Niemals noch / War unsere Erde ohne / Böse Flecken, ohne einen Unort / Mit Jobs für Folterknechte.» Fakt ist: Weinheber stand auf Hitlers «Gottbegnadetenliste». Er hat dem Führer und Goebbels ein Liedchen gesungen – wie andere auch. Als die sowjetische Armee Wien eroberte, schluckte er eine Überdosis Morphium. Trotzdem wäre es zu einfach, ihn einzig einen Nazidichter zu nennen. Zu viele andere Facetten spielen eine Rolle, wenn man sein ganzes Leben betrachtet. Und doch war er bekennender Antisemit.
Theodor Kramer, der Humanist aus dem Weinviertel, verfasste unter dem Titel «Requiem für einen Faschisten» diese Verse: «Ich hätte dich mit eigner Hand erschlagen; / doch unser keiner hatte die Geduld, / in deiner Sprache dir den Weg zu sagen: / dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld.» Dass man Weinheber den Heurigenhölderlin nannte, trifft es in jedem Fall. Seine Gedichte sind näher am Biedermeier als an der klassischen Ode.
Bundeskanzler Kreisky interveniert
Die Sommerzeit war für Auden Gegenbild und Kontrastmittel zu den Wintermonaten mit seiner Tätigkeit als Professor in Oxford und dem Way of Life in New York City. In dieser ruralen, abgeschiedenen Gegend, in einer fast schon ländlichen Idylle entstand ein aussergewöhnliches Spätwerk, das sich besonders in dem Zyklus «Thanksgiving for a Habitat» zeigt. Jedem Zimmer des Hauses hat er ein Gedicht gewidmet – und einer Person. Seine neue Lebenswelt begrüsst er im Titelgedicht wie folgt: «Ich, Transplantat / aus Übersee, bin endlich Herrscher über / drei Morgen Land und eine blühende / Ballung ländlicher Existenzen...»
Am westlichen Rand des Wienerwaldes fand er zwar keine Heimat, aber eine Scholle fester Erde unter den Füssen. Es gefiel ihm, der bestaunte, bewunderte Fremde zu sein, über den man sich Geschichten erzählte. Über seinen Sekretär, der sein Koch war – aber an zwei liebende, sexversessene Männer dachten wohl die wenigsten. Kaum jemand ahnte, geschweige denn wusste, mit wem er es zu tun hatte. Die Schärfe seines Intellekts; die grosse Gabe, in allem Welt zu sehen, sie zu verwandeln in Magie, Glanz und subtile Komik. Dies konnte keiner so gut wie Auden.
Bis heute unvergessen bleibt das Begräbnis, als der Sarg vom Haus zum Dorfplatz getragen wurde, neben ihm ein in Tränen aufgelöster Chester Kallman. Ein paar Tage zuvor war Auden in Wien an einem Herzinfarkt gestorben. Die Blaskapelle spielte, ein paar hundert Leute waren auf den Beinen.
Der Staat Österreich meinte es nicht immer gut mit dem aussergewöhnlichen Gast. Er forderte Steuern, obwohl Auden seine Einkünfte im Ausland erzielte. Darauf schrieb er, verständlicherweise empört, als Einspruch einen Brief in glasklarer, entlarvender Prosa; was vor der Steuerbehörde nicht half. Erst als sich Bruno Kreisky für ihn einsetzte, wurde die Summe halbiert. Aber Auden kam auch zu Ehren: Bereits zu Lebzeiten wurde die Strasse ins Hinterholz nach ihm benannt; die Pläne, eine Büste des Dichters aufzustellen, scheiterten in letzter Instanz Anfang der 1980er Jahre. Der sozialdemokratische Bundeskanzler und Vorsitzende der Auden-Gesellschaft war unerwünscht.
Überfall im VW-Käfer
Kunst ist nicht Leben und umgekehrt. So liest sich die private Seite der Geschichte zuweilen wie in einem Boulevardblatt. Die Liebe der beiden Männer war gross, aber auch das Begehren nach anderem. Kallman hatte einen griechischen Liebhaber, der, von Auden unerwünscht, dennoch ins Hinterholz kam; und so reiste Kallman immer häufiger nach Athen. Auden fuhr zum Amüsement mit seinem beigefarbenen VW-Käfer nach Wien: zum Opernhaus und zu den Stricherjungen. Bald fand er einen sehr jungen Mann, den kleinen Hugo: Hugerl. Ihre Affäre dauerte Jahre an. Warum das erzählen? In der Abwesenheit von Auden nutzte Hugerl das Auto für Überfälle, Einbrüche, auch in das Haus im Hinterholz.
Bei einer Verfolgungsjagd wurde er von der Polizei geschnappt, der Käfer hatte Einschusslöcher – worüber Auden nur lachte. Hugerl wanderte in den Knast; als er rauskam, ging die Liaison weiter. Überhaupt brachte der Käfer nur wenig Glück: Nach einem Unfall, bei dem sich Auden leicht verletzte, musste ihn die Haushälterin kutschieren. Seit jenen Tagen wechselten die Besitzer, doch wie man hört, soll der Käfer als Teil einer Skulptur im übernächsten Jahr aufgestellt werden – um den Meister zu feiern, Chapeau!
Dies gehört zur Wahrheit, und nichts beschädigt die Grösse dieses Mannes, erst recht nicht sein noch immer strahlendes Werk. Mit dem postumen Band «Kirchstettener Gedichte. 1958–1973» hat der Dichter der niederösterreichischen Provinz ein zugeneigtes, gelassenes und manchmal (selbst-)ironisches «Denkmal» gesetzt. Und dass Auden tanzen konnte, anders als Phil Collins, kann man vermuten. So ist das Ende des Gedichts «Pfingstsonntag in Kirchstetten» schlichtweg ein Geniestreich: «...über Katastrophen / und darüber, wie man sich in einer zu verhalten hat, / weiss ich nichts, nur das, was jeder weiss – / wenn ich dabei bin, wenn die Gnade tanzt, dann soll ich tanzen».
Man muss ihn sich vorstellen bei den Hortensien. Woran denkt er gerade, sinniert er über die Nachwelt? Die Dämmerung bricht herein, Rufe vom Wald. Plötzlich Stille, für einen Augenblick scheint es, als sei die Zeit stillgestanden. Nachts kommen Rehe in den Garten, und Auden, auf seinem Klappstuhl, erwartet die Gäste.
«Thanksgiving für ein Habitat. W.H. Auden in Kirchstetten». Literaturedition Niederösterreich, 2018. Informationen zum Auden-Museum: www.kirchstetten.at.
Der Schriftsteller Tom Schulz lebt in Berlin und in Italien. Im Frühjahr 2019 erschien im Verlag Hanser Berlin der Gedichtband «Reisewarnung für Länder Meere Eisberge».
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